Übersicht

Die neurobiologischen Grundlagen

In den zurückliegenden Jahren ist sowohl die Zahl als auch die Schwere psychischer Belastungen bei Schülerinnen und Schülern deutlich angestiegen, verstärkt durch die Auswirkungen der Pandemie. Viele Lehrkräfte und Akteure der Berufsorientierung wünschen sich Unterstützung im Umgang mit dieser Zielgruppe. Die BeSOS-Toolbox bietet daher praxisnahe Anleitungen und Strategien, um psychisch belastete Schülerinnen und Schülern einfühlsam zu begleiten und sowohl ihre Lernfähigkeit, als auch ihre berufliche Orientierungsfähigkeit zu stärken bzw. wieder herzustellen.

Um die einzelnen Methoden und Werkzeuge pädagogisch sinnvoll einsetzen zu können, sollte das zugrundeliegende BeSOS-Modell verstanden werden. Unsere Befragungen von fast 80 Akteuren im sächsischen Schulsystem einschließlich der Krankenhausschulen psychiatrischer Kliniken haben aufgezeigt, dass das notwendige neurobiologische Grundlagenwissen bisher nicht Bestandteil der Lehrerausbildung war und daher an dieser Stelle ein blinder Fleck im Schulsystem besteht.

Wichtige Grundlagen

Was passiert eigentlich bei psychischer Belastung im Körper?

Unsere Fähigkeit, auf Bedrohungen und Herausforderungen zu reagieren, ist durch tief verwurzelte biologische Mechanismen geprägt, die entscheidend für unser Überleben sind. Sobald wir Gefahren, herausfordernde Situationen oder Sorgen begegnen, reagiert unser Körper mit deutlichen physiologischen Veränderungen, die uns in Alarmbereitschaft versetzen. Diese Reaktionen sind essenziell, um uns kurzfristig mit den notwendigen Ressourcen auszustatten. Verharren wir jedoch zu lange in diesem Zustand, können daraus Stress und anhaltende psychische Belastungen entstehen.

Die hirnphysiologischen Zusammenhänge verstehen

Ein Verständnis für die Struktur unseres Gehirns ist unerlässlich, um diese Prozesse nachzuvollziehen, von denen sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte betroffen sind. Drei Hauptbereiche unseres Gehirns sind dabei zu betrachten:

Das limbische System: Dieser alte Teil unseres Gehirns ist entscheidend für die Verarbeitung von Emotionen und spielt eine zentrale Rolle beim Lernen. Er agiert als eine Art Knotenpunkt, der unsere Erinnerungen sortiert und zugänglich macht.

Der Neokortex: Dies ist die evolutionär jüngste Region unseres Gehirns, die für bewusstes Denken und Handeln, Reflexion, logisches Problemlösen, Sprachverarbeitung sowie für das Speichern und Abrufen von Langzeiterinnerungen zuständig ist. Ohne den Neokortex wären unsere kognitiven Fähigkeiten stark eingeschränkt.

Das Stammhirn: Bekannt als unser Reptilienhirn, kontrolliert es lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Herzschlag, Reflexe und Bewegung, gesteuert vom autonomen Nervensystem, ohne dass wir bewusst eingreifen müssen.

(Einfach auf die jeweiligen Punkte klicken)

Diese drei Gehirnregionen bilden ein komplexes System, das es uns ermöglicht, zu überleben, zu empfinden und zu denken. Sie zeigen auf, wie eng unsere kognitiven Funktionen, unsere emotionale Welt und die lebenserhaltenden Prozesse miteinander verwoben sind.

Der Überlebensmodus

Im Falle eines Ungleichgewichtes in Form von Stress oder (empfundener) Gefahr setzt eine für das Überleben existenzielle biologische Abwehr- und Schutzreaktion ein. Das Stammhirn übernimmt augenblicklich die Führungsrolle und ist befugt höher liegende Hirnareale einfach abzuschalten.

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Wenn Kinder in diesen biologischen Überlebensmechanismus fallen, können sie nicht lernen, merken sich sehr viel weniger, können nicht komplex denken und keine wichtigen Lebensentscheidungen sinnhaft treffen. Ein typisches Beispiel im Schulalltag ist der „Black-Out“ vor bzw. während einer Klassenarbeit, Prüfung oder eines Referates.

Das gleiche gilt allerdings auch für Lehrkräfte, wenn sie durch dauerhafte Überlastung ebenfalls nicht mehr über die nötige Resilienz verfügen um akute Belastungen auszugleichen. Auch sie werden in den biologischen Überlebensmechanismus getriggert. Als erstes geht hierbei die Fähigkeit verloren, eine pädagogische Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen zu gestalten. Auf Dauer gefährdet dies die Gesundheit der Lehrkräfte und wirkt zudem verstärkend als Belastungsfaktor für andere Kollegen.

 

Auf eine (vom autonomen Nervensystem definierte) Bedrohung reagieren Menschen jeden Alters auf unterschiedliche Weise. Das Stammhirn (Englisch “reptile brain” = “Reptilienhirn“) nutzt dabei drei Hauptstrategien, die in der folgenden Abbildung näher veranschaulicht werden:   

Flucht

Bei Schülern äußert sich die Flucht-Strategie häufig in Form von Schulvermeidung, übermäßigem Tagträumen, häufigem Krankmelden oder einem plötzlichen Rückzug aus sozialen Aktivitäten. Schüler, die in den Fluchtmodus schalten, versuchen, den stressigen oder überfordernden Situationen im Schulalltag zu entkommen. Dies kann ihre schulische Leistung, ihre sozialen Beziehungen und ihre allgemeine Entwicklung negativ beeinflussen.

Schüler, die sich in diesem Modus befinden, benötigen besondere Unterstützung und Verständnis, um ihre Ängste zu bewältigen und schrittweise wieder am Schulalltag teilzunehmen.

Typische Symptome:

  • Angststörungen
  • passive Schulverweigerung
  • Schulabstinenz
Erstarren / sich totstellen

Bei Schülern zeigt sich die Erstarrung-Strategie durch ein plötzliches Aussetzen jeglicher Aktivität oder Reaktion.

In stressigen Situationen können sie wie erstarrt wirken, unfähig, Fragen zu beantworten, an Aufgaben zu arbeiten oder auf Aufforderungen zu reagieren. Diese Reaktion ist ein Schutzmechanismus, der ihnen hilft, extreme Stressoren zu bewältigen, indem sie sich von der bedrohlichen Situation emotional und kognitiv distanzieren. Langfristig kann dies jedoch zu Lernschwierigkeiten, mangelndem Selbstvertrauen und sozialer Isolation führen.

Typische Symtomatiken:

  • depressive Verstimmungen
  • teils auch Angststörungen

 

Insgesamt zeigen sich Schüler im Modus der Erstarrung als eher unauffällig, wodurch sie im Unterrichtsgeschehen in der Aufmerksamkeit der Lehrkraft leichter verloren gehen können.

Kampf

Die Kampf-Strategie zeigt sich bei Schülern, wenn sie unter starkem Druck aggressiv reagieren. Anstatt sich gelähmt zu fühlen oder sich zurückzuziehen, neigen sie dazu, Konfrontationen zu suchen oder auf Stresssituationen mit erhöhter Reizbarkeit und Ärger zu reagieren.

Dieses Verhalten ist allerdings ein vergleichbarer Abwehrmechanismus, wie die anderen zwei Überlebensmuster, um sich in schwierigen Situationen zu behaupten und Kontrolle zu gewinnen.

Die Gefahr besteht, dass solches Verhalten als reines Erziehungsdefizit fehlgedeutet werden kann. Dies kann zu sozialen Konflikten, Ausschluss aus Gruppen und Disziplinarmaßnahmen führen.

Schüler, die häufig im Kampf-Modus agieren, sind demensprechend sehr auffällig und benötigen Unterstützung, um alternative Bewältigungsstrategien, vor Allem jedoch Selbstregulationsstrategien zu entwickeln.

Wichtig zu wissen: Menschen haben in der Regel keinen unmittelbaren Einfluss darauf, in welcher Weise sie in großen Belastungssituationen reagieren. Hierbei scheinen sehr frühe Erfahrungen, aber auch genetische Vererbung eine prägende Rolle zu spielen. So zeigt sich in Deutschland (im Durchschnitt betrachtet) eher das Überlebensmuster der Erstarrung, während Menschen mit Migationshintergrund aus Kriegsgebieten etwas häufiger auf das Kampf-Überlebensmuster zurückgreifen.  

Alle drei Reaktionsmuster gehen mit folgenden Eigenschaften einher:

  • fehlende Impulskontrolle
  • eingeschränkte Wahrnehmungsverarbeitung
  • Empfindungsverengung
  • Das Verhalten wird rein körperlich gesteuert – kognitiv in der Situation nicht erreichbar

Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass nicht alle Menschen in selber Weise auf Stress reagieren oder zwangsläufig Belastungssymptome entwickeln.

Bei Schülerinnen und Schülern können bestimmte Stressfaktoren in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich relevant sein. Zum Beispiel können familiäre Konflikte während der Kindheit eine größere Rolle spielen, während ein schulischer Leistungsdruck während der Adoleszenz stärker ins Gewicht fällt. Ebenso können für Lehrkräfte Arbeitsbelastungen zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich erschwerend wirken.

Der Triggerpunkt für den Wechsel in den Überlebensmodus ist höchst individuell und hängt nicht nur von aktuellen Problemlagen, sondern auch von der Ausgangslage der jeweiligen Person (Prädisposition) ab.

Achtung ansteckend!
Der Überlebensmodus wirkt sich ansteckend auf das gesamte schulische Umfeld aus, auch auf Sie als Lehrkraft, und Umgekehrt. Dieses Phänomen, bekannt als Co-Regulation, wird auf  noch ausführlicher besprochen.

Wenn Sie selbst, Kollegen oder Schüler im Überlebensmodus sind und mit Argumenten, Drohungen oder Sanktionen konfrontiert werden, ist es oft so, als spräche man zu einer Wand. In solchen Zeiten sind die Gehirnbereiche, die für Logik, Planung und Selbstkontrolle zuständig sind, heruntergefahren oder vollständig inaktiv.

Selbstregulation als Schlüssel

Der Schlüssel zum Verlassen dieses Zustandes liegt darin, das Stammhirn davon zu überzeugen, dass keine unmittelbare Lebensgefahr besteht.

Dies mag zunächst abstrakt klingen, wird jedoch verständlicher, wenn wir die Funktionsweise des Stammhirns betrachten: Bei einem Schreck, etwa durch eine plötzliche Bewegung im Augenwinkel, wird das Stammhirn aktiv und löst die Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin aus, was zu einer schnelleren Herzfrequenz, höherem Blutdruck, verengten Gefäßen und schnellerer Atmung führt. Diese Reaktionen bereiten den Körper auf die Grundstrategien des Überlebens – Kampf, Flucht oder Erstarrung – vor, noch bevor das Frontalhirn den Reiz vollständig verarbeiten kann. Normalerweise wird die wahrgenommene Bewegung schnell als harmlos identifiziert (z.B. ein wehendes Blatt), woraufhin das Frontalhirn das Stammhirn beruhigt und die Körperfunktionen sich normalisieren.

In unserer modernen Welt sind wir jedoch länger andauernden Stresssituationen ausgesetzt, die weit über das hinausgehen, was unsere Vorfahren erlebten. Die metaphorischen Säbelzahntiger von heute – seien es beruflicher Druck, Prüfungsängste, Zukunftsängste oder die ständigen Veränderungen unserer Zeit – lösen ähnliche Reaktionen aus. Auch viele Kinder sind durch Medien, schulische Herausforderungen, soziale Isolation oder ökologische und globale Sorgen dauerhaft hohen Belastungen ausgesetzt. Sie befinden sich quasi ständig in einem biologischen Alarmzustand, was ihre Fähigkeit zur Selbstregulation und Kontrolle erheblich einschränken kann.

Das BeSOS Modell

Das Verständnis des Überlebensmodus, in den Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte unter Stress geraten können, ist grundlegend für jede Maßnahme zur Verbesserung des Lernumfelds. Aus der Projektkompetenz heraus entstand ein Modell, welches sowohl das akademische Lernen als auch das psychische Wohlbefinden berücksichtigt und Ihnen als Lehrkraft praktische Strategien an die Hand gibt, ein achtsames und verständnisvolles Umfeld zu schaffen.

Indem Lehrkräfte den Überlebensmodus erkennen und gezielt ansprechen, können sie stressbedingte Reaktionen abmildern und die Lernfähigkeit steigern. Zudem hilft es Lehrpersonen, ihre eigene Stress-Resilienz zu verbessern, was für die Aufrechterhaltung eines positiven Lernklimas und einer guten Beziehungskultur unerlässlich ist.

Mit BeSOS bieten wir einen praktischen Rahmen für den Umgang mit Stress und emotionalen Herausforderungen. Unser Modell visualisiert die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden in der Schule als ein Haus:

Selbstwahrnehmung: Ein tiefes Verständnis der eigenen Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen.

Selbstwirksamkeit: Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Herausforderungen erfolgreich zu meistern

Selbstregulation: Die Fähigkeit, eigene Emotionen und Reaktionen bewusst zu steuern.

Beziehung geht vor: Positive Beziehungen zu Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Lehrkräften, die ein unterstützendes soziales Netzwerk bilden.

Um das Haus herum symbolisiert das Element der Bedeutung und des Sinnerlebens, wie essentiell es ist, Sinn in unserem Tun zu finden. Dies gibt dem gesamten Modell Stabilität und Kontext.

Das Kellergeschoss repräsentiert den Überlebensmodus, einen Zustand, in dem Stress und Angst dominieren und rationale Denkprozesse sowie die Lernfähigkeit blockiert werden. Dieser Modus dient als biologischer Schutzmechanismus, der in akuten Gefahrensituationen eine Rückzugsmöglichkeit bietet.

Das Kellergeschoss repräsentiert den Überlebensmodus, einen Zustand, in dem Stress und Angst dominieren und rationale Denkprozesse sowie die Lernfähigkeit blockiert werden. Dieser Modus dient als biologischer Schutzmechanismus, der in akuten Gefahrensituationen eine Rückzugsmöglichkeit bietet. Es ist entscheidend, dass wir uns dieser emotionalen und physischen Reaktionen bewusst sind und lernen, sie zu regulieren.

Der Keller zeigt nicht nur die Risiken des verlängerten Aufenthalts in diesem Zustand auf, sondern betont auch seine essentielle Schutzfunktion, die uns in Momenten echter Bedrohung zur Seite steht.

Kurz gesagt:

Im „Überlebenskeller“ sind Kinder außerhalb der Reichweite pädagogischer Interventionen.

Dieses Modell soll Ihnen als Lehrkraft helfen für Kinder die Zeit (täglich 6 bis 8 Stunden) in der
Schule erlebbar so sicher zu gestalten, dass sie nicht in den Überlebensmodus fallen.

In den weiteren Artikeln dieser Webseite werden wir detailliert auf das Modell an sich sowie jedes seiner Elemente eingehen und praxiserprobte Methoden sowie nützliche Werkzeuge im Rahmen unserer Toolbox vorstellen, die Ihnen dabei helfen werden, sowohl sich selbst als auch Ihre Schülerinnen und Schüler effektiv zu unterstützen.

Steigen Sie mit uns tiefer in das BeSOS Modell ein.

Um Ihnen die Orientierung zusätzlich zu erleichtern, haben wir einen Leseleitfaden erstellt, der Sie Schritt für Schritt in die Grundlagen und die Anwendung einführt.

Unser Leseleitfaden

Leseleitfaden

Neurobiologische Grundlagen

Der richtige Startpunkt, um unser BeSOS Modell in all seinen Aspekten kennenzulernen. Insbesondere gehen wir dabei auf die neurobiologischen Vorgänge ein, die uns alle in Belastungssituationen begegnen.

Dieser Beitrag ist gerade geöffnetSchritt 1

Das BeSOS-Modell

In diesem Beitrag geht es darum, wie Sie das BeSOS Modell im Schulalltag anwenden können. Um es Ihnen zu erleichtern mit Ihren Schülerinnen uns Schülern darüber zu sprechen, haben wir dazu maritime Bildmetaphern entwickelt.

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Element: Selbstwahrnehmung

In diesem Beitrag lernen Sie vertieft das Element der Selbstwahrnehmung kennen, welches eine Grundvorraussetzung gelingender Selbstregulation darstellt.

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