Übersicht

Ko-Regulation

Sie betreten am Montagmorgen Ihre Klasse und spüren sofort eine gespannte Atmosphäre. Einige Schülerinnen und Schüler sind abwesend, andere wirken unruhig. Bestimmt haben Sie das schon einmal erlebt. Sie fragen sich, wie Sie das emotionale Klima beruhigen können, damit sich der Fokus wieder auf das Lernen richtet. Genau hier greift das Konzept der Ko-Regulation.
 
Ko-Regulation bedeutet, dass Ihre emotionale Ausstrahlung als Lehrkraft einen direkten Einfluss auf das Verhalten und die Gefühlslage Ihrer Schülerinnen und Schüler hat. Es ist eine unbewusste Dynamik, bei der Ihre innere Ruhe und Gelassenheit sich auf die Klasse übertragen. Sie haben sicher schon beobachtet, wie sich gute Laune blitzschnell auf andere überträgt – genauso wie Unruhe oder Nervosität ansteckend sein können.
 
Das folgende Video veranschaulicht, diese Wirkung – beobachten Sie, wie schnell sich eine einzelne Emotion auf die Umgebung (und vermutlich auch auf Sie) überträgt.

Ihre Rolle als emotionaler Anker

Im Klassenzimmer bedeutet Ko-Regulation mehr als nur emotionale Ansteckung – sie ist das bewusste Lenken von Situationen. Ihre emotionale Haltung wirkt wie ein Anker, an dem sich die Schülerinnen und Schüler orientieren. Wenn Sie in stressigen Momenten ruhig bleiben, können Sie den Stresspegel im Raum senken. Wenn Sie jedoch selbst angespannt sind, wird sich diese Spannung auf die Klasse übertragen und die Stimmung noch mehr aufladen.

Erstes Alltagsbeispiel: Die hektische Unterrichtsstunde

Es ist kurz vor den Ferien, und die Klasse ist unruhig und abgelenkt. Als Lehrkraft spüren Sie den Druck, die Situation zu kontrollieren. Der erste Impuls könnte sein, laut zu werden, um die Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Doch Sie wissen: Je lauter Sie werden, desto unruhiger wird die Klasse.

Stattdessen atmen Sie tief durch, senken bewusst Ihre Stimme und sprechen langsamer und ruhiger. Sie sehen die Schülerinnen und Schüler an, lassen sich Zeit. Nach kurzer Zeit wird auch die Klasse ruhiger. Ihre Gelassenheit überträgt sich auf die Lernenden – genau das ist Ko-Regulation in Aktion.

Zweites Alltagsbeispiel: Der Schüler vor der Prüfung

Ein Schüler gerät vor einer Klassenarbeit in Panik. Sie sehen, wie er nervös auf dem Stuhl hin- und herrutscht, tief durchatmet, aber sich nicht konzentrieren kann. Sie gehen ruhig auf ihn zu und sagen in einem sanften Ton: „Atme tief ein und aus. Wir machen das in Ruhe Schritt für Schritt.“

Ihre ruhige, positive Haltung wirkt beruhigend auf den Schüler. Ihre Zuversicht und Gelassenheit helfen ihm, seine Panik zu überwinden und sich wieder auf die Prüfung zu konzentrieren.

Der Überlebensmodus als emotionaler „Sog“

Der Überlebensmodus ist ein neurobiologischer Zustand, in dem unser Gehirn hauptsächlich durch das Stammhirn gesteuert wird. Wenn Schülerinnen und Schüler sich im Überlebensmodus befinden – also in einem Zustand von Angst, Wut oder Überforderung – greifen tief verankerte Mechanismen, die ursprünglich dazu dienten, unser Überleben zu sichern: Kampf, Flucht oder Erstarrung. Diese Reaktionen sind impulsiv und entziehen sich oft der bewussten Kontrolle.

Das Problem im Klassenzimmer entsteht, wenn nicht nur ein Schüler, sondern möglicherweise eine größere Gruppe von Schülern gleichzeitig in diesen Modus fällt. Die emotionale Anziehungskraft des Überlebensmodus ist so stark, dass sie die gesamte Klasse erfassen kann, einschließlich der Lehrkraft. In solchen Situationen fällt es enorm schwer, selbst die emotionale Balance zu halten. Die Überlebensreaktionen sind ansteckend – und es erfordert große Anstrengung, diesen Sog nicht selbst zu spüren und von der eigenen Ruhe abzuweichen.

Warum ist das so?

Neurobiologisch gesehen ist das sympathische Nervensystem – also der Teil des Nervensystems, der im Überlebensmodus aktiviert wird – unglaublich stark und schnell. Es bereitet den Körper auf Reaktionen wie Flucht oder Kampf vor und schüttet Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol aus. Diese Hormone wirken unmittelbar auf den Körper und das Gehirn, sie verstärken die emotionale und körperliche Reaktion, und die Energie, die dabei freigesetzt wird, kann leicht „überspringen“. Wenn ein Schüler wütend oder panisch wird, strahlt dies auf andere aus – und bald darauf kann die gesamte Klasse in einem Zustand erhöhter Erregung oder Aufregung sein.

Wenn Lehrkräfte versuchen, in solchen Momenten ruhig zu bleiben, haben sie es nicht nur mit den Emotionen der Schülerinnen und Schüler zu tun, sondern auch mit ihrer eigenen biologischen Reaktion auf den Stress. Die Herausforderung besteht darin, sich nicht von der allgemeinen Aufregung „anstecken“ zu lassen, sondern gezielt gegenzusteuern.

Wie bleibt man „Leuchtturm“?

  1. Selbstregulationstechniken: Eine der einfachsten und effektivsten Methoden zur eigenen emotionalen Beruhigung ist die bewusste Atmung. Indem Sie tief und gleichmäßig atmen, aktivieren Sie den parasympathischen Teil des Nervensystems, der für Ruhe und Regeneration sorgt. Es hilft, den Herzschlag zu beruhigen und die körperliche Stressreaktion abzubauen.

    Alltagsbeispiel: Die Klasse wird unruhig, Sie spüren die Nervosität in sich aufsteigen. Dadurch würden Sie wahrscheinlich hektisch reagieren. Nehmen Sie drei tiefe Atemzüge (SOS-Breath). Dadurch signalisieren Sie Ihrem Körper: „Es gibt keinen akuten Grund für Alarm.“ Diese innere Ruhe hilft Ihnen, klar zu bleiben und das Chaos in der Klasse zu bewältigen.

  2. Bewusste Deeskalation: In der Regel verschlimmert sich die Situation, wenn man impulsiv und laut reagiert. Leise und langsame Ansprache, direkte Blickkontakte und eine bewusst ruhige Körperhaltung können dazu beitragen, den Überlebensmodus der Schüler zu entschärfen.

    Alltagsbeispiel: Ein Schüler provoziert Sie vor der ganzen Klasse, wirft absichtlich laute Kommentare ein und stört den Unterricht. Sie stehen kurz davor gereizt zu reagieren. Doch Sie atmen einmal tief ein (SOS-Breath) und treten näher an ihn heran, sprechen in einem ruhigen Tonfall und stellen die Verbindung wieder her, indem Sie ihn beispielsweise fragen, ob er Hilfe braucht oder was ihn gerade beschäftigt.

  3. Langfristige emotionale Stabilität fördern: Es ist wichtig, dass Ko-Regulation nicht nur in akuten Situationen angewendet wird, sondern ein integraler Bestandteil der Klassenkultur ist. Eine beständige und verlässliche Präsenz als Lehrkraft – eine „Leuchtturm-Funktion“ – hilft den Schülerinnen und Schülern, sich in stressigen Situationen auf Sie zu verlassen und schneller aus dem Überlebensmodus herauszufinden.

    Alltagsbeispiel: Regelmäßige „Check-ins“ am Anfang des Unterrichts bzw. zu verlässlichen Zeiten, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre Stimmung äußern dürfen, signalisieren ihnen, dass ihre Emotionen im Klassenzimmer willkommen sind und von Ihnen ernst genommen werden. Das hilft, unkontrollierten Stress gar nicht erst entstehen zu lassen.

  4. Reflexion nach Belastungssituationen: Es ist wichtig, nach stressigen Unterrichtsstunden oder Situationen innezuhalten und darüber nachzudenken, was gut funktioniert hat und was verbessert werden kann. Manchmal sind es gerade die ruhigen Momente nach einem Sturm, in denen Lehrkräfte ihre besten Erkenntnisse darüber gewinnen, wie sie beim nächsten Mal noch besser ko-regulieren können.

Ko-Regulation bewusst einsetzen

In stressigen Situationen sind Sie als Lehrkraft der Leuchtturm, der Orientierung und Sicherheit bietet.

Ko-Regulation ist der Mechanismus, durch den Sie diese Rolle bewusst gestalten können. Ihre eigene innere Ruhe und Gelassenheit haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Atmosphäre im Klassenzimmer.

Ko-Regulation erfordert Bewusstsein, Training und Geduld. Es ist kein passiver Vorgang, sondern ein aktiver Prozess, in dem Sie als Lehrkraft nicht nur auf die Emotionen Ihrer Schülerinnen und Schüler reagieren, sondern auch Ihre eigene emotionale Balance halten müssen. Und es ist genau diese Fähigkeit, die den Unterschied macht: In der Ruhe liegt die Kraft – für Sie, für Ihre Klasse und für den Lernprozess.

Indem Sie das Konzept der Ko-Regulation gezielt in Ihren Unterricht integrieren, schaffen Sie eine Atmosphäre, in der sich alle wohlfühlen und stressfrei lernen können. Ruhe und Gelassenheit sind ansteckend – genauso wie Stress und Anspannung. Als Lehrkraft haben Sie die Möglichkeit, bewusst zu entscheiden, welchen Einfluss Sie auf Ihre Klasse ausüben möchten.

Schreiben Sie einen Kommentar

Jetzt registrieren!

Melden Sie sich noch heute bei der Wissensdatenbank von BeSOS an, um an tiefgreifenden Diskussionen teilzunehmen und Ihr Verständnis zu wichtigen Themen zu erweitern. Nutzen Sie die Chance, gemeinsam mit einer Gemeinschaft von Experten und Gleichgesinnten zu lernen und zu wachsen!

Login

Cookie-Einwilligung mit Real Cookie Banner