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Selbstregulation

 

Selbstregulation ist die Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu verstehen, zu kontrollieren und anschließend angemessen darauf zu reagieren. Diese Fähigkeit ist im schulischen Alltag entscheidend und eng mit der neurobiologischen Funktionsweise unseres Nervensystems und dem Überlebensmodus verknüpft.

In unserer BeSOS-Schiffsmetapher symbolisiert das Steuerrad die Fähigkeit zur Selbstregulation. Es ermöglicht die aktive und willentliche Steuerung des eigenen Kurses. In Belastungssituationen übernimmt häufig das Stammhirn (bzw. das “Krokodil”) das Steuerrad, was sich oft in destruktivem Verhalten zeigt.

Je schneller das “Krokodil” an Bord wahrgenommen wird (Selbstwahrnehmung) und je öfter die Handhabung des Steuerrades gerade in schwierigen Situationen eingeübt wird (Selbstregulation), desto situationsgerechter kann das “Krokodil” handeln. Denn es weiß selbst nicht, ob die Außenwelt tatsächlich eine Gefahr darstellt bzw. das Überleben mit allen Mitteln gesichert werden muss. Es reagiert ausschließlich auf Emotionen und Körpersignale.

Mit anderen Worten: Indem Sie und Ihre Schülerinnen und Schüler effektive Selbstregulationfähigkeiten erlernen, können Sie besser mit Stress und emotionalen Herausforderungen umgehen und vor Allem die Kontrolle über das eigene Verhalten sicherstellen.

Neurobiologischer Hintergrund

Emotionale Regulation basiert biologisch auf der Balance zwischen dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem. Bei Stressreaktionen übernimmt das Stammhirn die Kontrolle, was zu impulsivem Verhalten führen kann (siehe Modell-Einführung).

Vielleicht kommt Ihnen folgendes Fallbeispiel in ähnlicher Weise bekannt vor:

Max ist ein 15-jähriger Schüler in der 9. Klasse. In letzter Zeit berichtet seine Lehrerin von zunehmenden Konzentrationsproblemen und impulsivem Verhalten. Max wird schnell wütend, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, was nicht nur ihn selbst, sondern auch die gesamte Klasse belastet.

Während einer Matheprüfung merkt Max, dass er eine Aufgabe nicht versteht. Er wird sofort wütend, beginnt auf seinem Stuhl zu zappeln, stöhnt laut und fegt schließlich sein Blatt vom Tisch. Die Lehrkraft bittet ihn, das Blatt wieder aufzuheben und seine Arbeit fortzusetzen, was seine Wut weiter verstärkt. Er stürmt aus dem Klassenzimmer und verbringt den Rest der Stunde draußen, unfähig sich zu beruhigen oder die Prüfung fortzusetzen.

Die Lehrerin von Max ist ratlos, da sich dieses Verhalten vorhersehbar wiederholt, wenn Max sich überfordert fühlt. Im Gespräch mit seinen Eltern zeigt sich, dass Max auch außerhalb der Schule Schwierigkeiten hat, die Kontrolle über seine Emotionen zu behalten. Max selbst fühlt sich missverstanden und isoliert, was seine Selbstzweifel und Frustration weiter verstärkt.

Um zu verstehen, was in Max in solchen Belastungssituationen vor sich geht, werfen wir einen genaueren Blick auf unser neurologisches Zentrum, das Gehirn, und die beiden großen Systeme aus Nervenbahnen, die unseren Körper durchziehen.

Wenn wir, wie Max, in eine Gefahren- oder Überforderungssituation geraten, reagiert das autonome Nervensystem augenblicklich: Es passt Atemfrequenz und Herzschlag an und schüttet Hormone wie Adrenalin und Cortisol aus, um den Körper für eines der drei Überlebensmuster (Kampf, Flucht oder Erstarrung) vorzubereiten. Gleichzeitig werden nicht unmittelbar lebensnotwendige Funktionen wie das rationale Denken im Neokortex oder die Verdauung heruntergefahren.

Mit anderen Worten: Wenn bei Max der Triggerpunkt überschritten ist, reagiert er fast ausschließlich körperlich in seinem Überlebensmuster. Ein klarer Gedanke ist biologisch ausgeschlossen, und er ist in seinem emotionalen Zustand sprichwörtlich gefangen. Die Ratlosigkeit der Lehrkraft ist in diesem Zusammenhang mehr als verständlich, da jeglicher Versuch, Max über liebevolle oder strengere Worte zu erreichen, ins Leere laufen muss.

Eine weitere wichtige biologische Tatsache ist, dass Nervenbahnen als Einbahnstraßen konstruiert sind. Überraschenderweise gehen 80% dieser Bahnen in Richtung Gehirn (Bottom-Up) und nur 20% vom Gehirn in Richtung Körper (Top-Down). Das bedeutet, dass der Einfluss des Körpers auf das Gehirn wesentlich stärker ist als umgekehrt. Sich mit Gedanken wie „Ich muss mich jetzt beruhigen“ oder auch von außen „Jetzt entspann dich mal“ zu regulieren, ist unter diesen physiologischen Gegebenheiten nahezu unmöglich.

Max hat in seiner Not demnach weder die Möglichkeit, über seine eigenen Gedanken Einfluss zu nehmen, noch kann er adäquat auf die Interventionen der Lehrkraft reagieren. Teile seines Neokortex sind abgeschaltet, und die körperlichen Reaktionen, die das autonome Nervensystem reguliert, sind so stark, dass ein neurologischer Teufelskreis entsteht.

Selbstregulation erlernen

Um sich im Zustand hoher Gefahr und Stresses zu regulieren, sind körperorientierte Techniken das effektivste Mittel, um die emotionale Kontrolle zurückzugewinnen. Der neurobiologische „Trick“ hierbei ist, genau die Körperparameter, die das sympathische Nervensystem umgestellt hat, aktiv und bewusst so zu verändern, dass das Gehirn ein Signal von Sicherheit empfängt und seinerseits wiederum Signale an das parasympathische Nervensystem senden kann, um diese Entwicklung zu unterstützen. Eine neue neurobiologische Spirale beginnt zu wirken, diesmal jedoch in die andere Richtung.

Das parasympathische Nervensystem, häufig auch als Vagus- oder Vagussystem bekannt, ist der Gegenspieler des aktiven sympathischen Nervensystems. Es sorgt für Ruhe und Regeneration, verlangsamt den Herzschlag, verringert den Blutdruck und versorgt die Regionen wieder mit Leben, die für Erholung wichtig sind.

Körperorientierte Methoden beeinflussen unser autonomes Nervensystem aktiv und helfen dabei, emotionales Wohlbefinden wiederherzustellen und aus der körperlichen Reaktion des Überlebens auszusteigen.

In unserer BeSOS-Toolbox finden Sie zahlreiche Selbstregulationsmethoden, die nicht nur wissenschaftlich erforscht und effektiv, sondern auch sehr einfach anzuwenden sind. Diese Techniken können Ihnen sowohl im Schulalltag als auch in Ihrem persönlichen Leben von unschätzbarem Wert sein. Das Beste daran: Die meisten dieser Techniken wirken bereits innerhalb weniger Minuten.

Zurück zu Max:

Max hat mithilfe seiner Lehrerin inzwischen eine körperorientierte Technik erlernt, die ihm ein Werkzeug an die Hand gibt, sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen. Während einer Matheprüfung merkt Max, dass er eine Aufgabe wieder einmal nicht versteht. Er spürt, wie die Wut in ihm aufsteigt. Statt impulsiv zu reagieren, nutzt er eine Atemtechnik, die er von seiner Lehrerin gelernt hat. Er schließt kurz die Augen, atmet tief ein und aus und versucht, sich zu beruhigen. Anschließend schaut er sich die Aufgabe noch einmal an und entscheidet, sie erst einmal zu überspringen und sich den leichteren Aufgaben zu widmen.

Manchmal gelingt ihm dies noch nicht in jeder Situation. Sobald er merkt, dass eine Wutspirale aufsteigt, signalisiert er seiner Lehrerin ein Zeichen, das sie im Vorfeld gemeinsam vorbesprochen haben. Dann darf Max mit Erlaubnis kurz den Klassenraum verlassen und kombiniert die Atemtechnik mit etwas Bewegung im Schulflur. In dieser Weise schafft es Max immer schneller und souveräner, wieder am Unterricht teilzunehmen.

Auch seine Mitschüler bemerken seine Veränderung und er erhält positive Rückmeldungen, was sein Selbstwertgefühl stärkt und ihn motiviert, dran zu bleiben.

Wir haben dieses Fallbeispiel ausgewählt, weil es nicht nur den positiven Einfluss einer Selbstregulationstechnik veranschaulicht, sondern auch zeigt, dass es manchmal kreativer Wege bedarf, um Misserfolge und Hürden zu überwinden. Nicht jede Technik passt für jeden Schüler, nicht jeder Schüler ist dankbar und motiviert, und nicht jeder Schüler lässt sich sofort bereitwillig darauf ein.

Abgrenzung in der eigenen Rolle als Lehrkraft

Es ist wichtig, zu betonen, dass es nicht um die Bewertung der Emotion Wut an sich geht, sondern darum, Freiräume zu schaffen, in denen situationsgerechtes Handeln möglich wird. Die Wut von Max kann viele Ursachen haben; die Überforderung durch die Mathe-Aufgabe ist lediglich der Auslöser. Migrations- und Fluchterfahrungen oder schwierige familiäre Hintergründe können destruktive Überlebensstrategien verstärken. Ihre Aufgabe als Lehrkraft ist es in diesem Moment, den Schüler so zu unterstützen, dass er aus seiner „Überlebensfalle“ herausfinden kann – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Selbstregulationstechniken sollen lediglich den emotionalen Hochstress in Akutsituationen mildern und sind keine therapeutischen Interventionen. Das BeSOS-Modell unterstützt Schüler und Lehrkräfte in Belastungssituationen, um die Lern- und Orientierungsfähigkeit wiederherzustellen. Jugendliche mit diagnostizierten psychischen Erkrankungen benötigen andere Interventionen und externe Hilfe. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Einübung von Selbstregulationstechniken nicht auch unterstützend und hilfreich sein kann.

Natürlich ist es auch wichtig, die Schüler in ihren Fähigkeiten so zu stärken, dass sie bereits vor Erreichen des Überlebensmodus intervenieren können. Hierbei spielt die Selbstwahrnehmung eine zentrale Rolle, wie in diesem Artikel beschrieben. In unserer Toolbox finden Sie zahlreiche Praxistipps für Ihre Schülerinnen und Schüler sowie für Ihren Unterricht.

Wir laden Sie herzlich ein, diese Methoden auszuprobieren und in Ihren Unterricht zu integrieren. Gemeinsam können wir dazu beitragen, dass unsere Schülerinnen und Schüler – und wir selbst – resilienter und stressresistenter werden.

Auf den verwandten und im schulischen Kontext nicht minder wichtigen Punkt der Co-Regulation gehen wir in einem separaten Artikel ein.

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